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Bücher zu allen Aspekten der Innovation gibt es wie Sand am Meer. Interessanterweise sind viele dieser Bücher selbst nicht sehr innovativ, geben also nur das wieder, was schon seit Generationen bekannt und akzeptiert ist. Das Buch „Anticonventional Thinking“ von Jeffrey Baumgartner hält sich damit nicht auf.

Konventionen brechen

Der Name ist Programm: Hier wird mit Konventionen gebrochen. Und das ist hilfreich! Es ist doch absolut plausibel, dass nur dann wirklich kreative, bahnbrechende Ideen entstehen, wenn man bereit ist, die gewohnten Bahnen zu verlassen. Und gewohnte Bahnen verlassen muss man auf jeden Fall, wenn man die Inhalte des Buches in der Praxis anwenden will. Genau dafür, für die praktische Anwendung der Methode „Anticonventional Thinking“, kurz ACT, auf Innovations- und Entwicklungsvorhaben wirbt das Buch.

Nun kann man über den Vorschlag lächeln, ein technologisches oder wirtschaftliches Problem beispielsweise durch Ausdruckstanz zu lösen. Das ist schließlich doch ganz schön abwegig. Aber genau dieses abwegige sorgt dafür, dass völlig neue Verknüpfungen und Assoziationen im Gehirn entstehen. Und was wäre wohl abwegiger für eine Entwicklungsingenieurin oder einen Unternehmenschef als Ausdruckstanz? Hier ist die Bemerkung angebracht, dass Jeffrey Baumgartner in keiner Weise vorschlägt, Anticonventional Thinking (ACT) auf alle alltäglichen Problemstellungen anzuwenden. Die Methode eignet sich spezifisch für die Fälle, wo eine bahnbrechende, innovative Idee gesucht wird. Das sind genau die Fälle, in denen das Standardwerkzeug der Ideenfindung, das Brainstorming, selten zufriedenstellende Resultate bringt.

Brainstorming ist eher laues Lüftchen

Die Unzulänglichkeiten des Brainstormings sind auch der inhaltliche Einstieg in das Buch. Es wird pointiert und überzeugend dargelegt, warum die Grundvoraussetzungen für Brainstorming dazu führen, dass wirklich kreative Ideen gar nicht erst entstehen, nicht geäußert werden oder im Nachgang zugunsten weniger unkonventioneller Vorschläge verworfen werden. Bevor die aus Sicht des Autors bessere Methode ACT vorgestellt wird, erklärt der Autor noch die Grundlagen der Entstehung von Ideen und die Grundlagen der Entscheidungsfindung. Dabei schreibt Jeffrey Baumgartner durchweg knackig, mit einer gesunden Portion Ironie und Witz und einer großen Begabung dafür, allgemein gültige Zusammenhänge am konkreten Beispiel deutlich zu machen.

Die Methode Anticonventional Thinking

Selbst, wenn das Buch an dieser Stelle enden würde, wäre es schon eine wertvolle Lektüre für jeden, in dessen Zuständigkeitsbereich Entscheidungen mit größerer Tragweite zu treffen sind. Dabei stellt der Autor jetzt erst die eigentliche Methode vor. Diese besteht aus vier Schritten:

  1. Spiele mit der Situation
  2. Formuliere ein sexy Ziel
  3. Schaffe eine kreative Vision
  4. Erstelle eine Plan für die Umsetzung

In den ersten drei Schritten wird jeweils dafür gesorgt, dass konventionelle, langweilige Verbesserungsvorschläge zugunsten von kreativen, begeisternden Ideen verworfen werden. Also genau das Gegenteil von dem, was im Alltag passieren würde. Und an der Stelle, wo sich üblicherweise alle entspannt zurücklehnen und die Ausbeute der Ideenfindung zufrieden betrachten, hört das Buch immer noch nicht auf. Im Gegenteil, das folgende ist aus meiner persönlichen Sicht der stärkste Teil des Buches.

Von der Vision zur Realität

Es ist meiner Meinung nach vergleichsweise einfach, nach kreativen und ausgefallenen Ideen zu suchen. Der viel schwierigere Teil, an dem die meisten Innovationen scheitern, ist die Umsetzung der kreativen Vision in die Praxis. Je ungewöhnlicher und unbequemer die neue Idee ist, desto mehr Widerstand wird ihr auf dem Weg zur Umsetzung begegnen und sie wird verschleppt und bis zur Unkenntlichkeit verwässert oder bei den ersten auftretenden Problemen doch noch verworfen. Wie Thomas Alva Edison schon wusste: „Erfindungen sind 1% Inspiration und 99% Transpiration.“

Jeffrey Baumgartner gibt sich nicht damit zufrieden, dass kreative Visionen entstehen, seine Methode enthält auch die Werkzeuge für eine erfolgreiche Umsetzung in die Realität. Konkret gibt er Vorschläge, wie andere, typischerweise Vorgesetzte, von der Vision überzeugt werden können. Die Aufstellung des Planes für die Umsetzung sollte noch mit dem Schwung der kreativen Phase erfolgen. Mit dem detaillierten, verbindlichen Plan soll sichergestellt werden, dass das visionäre Projekt nicht dem Alltagstrott zum Opfer fällt und sich in kleinschrittigen Detaildiskussionen verliert. Bei notwendigen Änderungen ist strikt zu vermeiden, die Vision konventioneller werden zu lassen. So soll die unkonventionelle Idee auf dem Weg in die Realität erhalten werden.

Zu wenig Forschung?

Zwei Sachen habe ich vermisst: Einerseits fehlt mir eine zeitliche Einordnung der Anwendung der ACT-Methode. In welchem Zeitraum soll die Gruppe vom Spielen mit der Situation bis zum Umsetzungsplan für die kreative Vision kommen? Denkbar ist hier alles von der eintägigen, intensiven Klausur über einen Wochenendworkshop bis hin zum mehrwöchigen oder gar mehrmonatigen Prozess. Dass dieser Punkt offen gelassen wird, berührt auch den zweiten Mangel: Mir fehlen im Ablauf Zwischenschritte, wo das bisher erreichte Zwischenergebnis an der Realität getestet wird. Ich fürchte, es ist leicht, in einen kreativen Flow zu geraten und die Realität ein bisschen aus den Augen zu verlieren. Das ist ja auch explizit Sinn und Methode von ACT! Genau so ist es Sinn, Kritik direkt zu äußern und damit auch Bedenken zur Neuheit, Realisierbarkeit oder zur Marktfähigkeit von Anfang an mit einzubeziehen. Fundiert sind solche Bedenken aber nur, wenn hinreichend Zeit ist, sie zu untermauern oder auszuräumen. Dazu sollte aus meiner Sicht Raum bleiben, bevor alle auf eine kreative Vision eingeschworen sind, die sich im Nachhinein als absolut nicht umsetzbar erweist.

In jeder Idee steckt Herzblut und je weiter eine Idee entwickelt wurde, desto mehr kreative Energie und Elan ist verloren, wenn die Idee verworfen werden muss. Wenn im Vorfeld mehr Raum bleibt, die Vision auf Realisierbarkeit zu testen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Vision später verworfen werden muss. Das Innovationsteam traut sich dann eher, mehr Herzblut in eine Vision zu stecken, wodurch die Qualität der kreativen Visionen nochmals steigen dürfte.

Leseempfehlung

Insgesamt ist „Anticonventional Thinking“ ein starkes Buch, das ich jedem, der sich mit Innovation beschäftigt (und mit Englisch kein Problem hat) ans Herz legen kann. Die Lektüre macht Spaß, nicht zuletzt durch die treffenden Cartoons aus der Feder des Autors, die den Text zahlreich auflockern. Die über 100 Seiten sind vollgepackt mit hilfreichen Informationen und Methoden, die auch dann anwendbar sind, wenn keine extrem unkonventionelle Lösung gesucht wird.

Hinweise im Sinne der Transparenz: Der Autor hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Wenn Sie das Buch über einen der Links kaufen, erhalte ich eine kleine Provision von Amazon. 


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